Wir stehen vor den Stadttoren von Jerusalem auf einem Friedhof und blicken zum Tempelberg. Unsere Reiseführerin zeigt auf die Grabsteine. Auf allen liegen kleine Steine, manchmal nur wenige, auf anderen häufen sich auch sehr große Steinberge. Manche Steine sehen aus, als wären sie gerade mal eben so schnell vom Weg aufgesammelt worden, andere wiederum wurden anscheinend extra für diesen Zweck ausgesucht und mitgebracht. Wir fragen die Reiseführerin nach der Bedeutung der Steine, denn es scheint, dass die Steine anstatt der bei uns üblichen Blumen abgelegt wurden.
Unsere Reiseführerin liefert uns zwei Erklärungen:
zum einen hätten die Steine einen pragmatischen Sinn, denn als es noch keine Friedhöfe gab, sollten die Grabstätten erkennbar sein und das Grab auch vor Witterungseinflüssen und wilden Tieren geschützt sein. Jeder Besucher hinterlegte einen weiteren Stein auf dem Grab und zeigte damit seine Verbundenheit mit dem Toten: „Ich war hier, ich denke an dich!“
Die zweite Erklärung habe ich trotz einiger Nachforschungen nirgends nachlesen können, aber sie ging mir damals so zu Herzen, dass ich sie mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser des Sonntagsgrußes, teilen möchte, auch wenn sie vielleicht nur der Fantasie unserer Reiseführerin entsprungen ist: Fakt ist, dass jedes jüdische Grab nach Osten ausgerichtet ist, damit sich alle Juden am Tag der Auferstehung auf den Weg nach Jerusalem zu ihrem Messias machen können. Laut der Erzählung unserer Reiseführerin sollten dabei die Steine auf den Grabsteinen dazu dienen, den Tempel in Jerusalem wieder aufzubauen. Dabei mache jeder mit und wer viele Steine auf seinem Grab habe, könne natürlich auch mehr dazu beitragen.
Für viele aus unserer Reisegruppe war dies damals ein beeindruckendes Bild des unerschütterlichen Glaubens und der unermüdlichen Hoffnung.
Direkt vor unseren Augen waren die Gräber mit den Steinen, dahinter der Blick auf die Stadtmauer Jerusalems und den Felsendom, der den Standort des ehemaligen Tempels markiert. Unter dem Felsendom befindet sich die verbliebene Westmauer des Tempels, die Klagemauer, Ort des Gebets vieler Jüdinnen und Juden. Die Menschen haben sich arrangiert. Die jüdische Lehre erfolgt nun in den Familien und den Synagogen, aber trotzdem vermissen sie ihren Tempel, obwohl dieser bereits seit über 1900 Jahren zerstört ist. Jedes Jahr im August gedenken die jüdischen Gemeinden der Zerstörung des Tempels sowie der heiligen Stadt Jerusalem im Jahr 70 nach Christus durch die Römer. Und auch wir verbinden uns mit unseren Gebeten am Sonntag im Gottesdienst in Gronau mit den Juden und Jüdinnen dieser Welt und ganz besonders den Menschen in Israel, die auch aktuell im Nahost-Konflikt wieder unter Anfeindungen, Zerstörungen und Attentaten leiden. Wir rufen zu Gott: Herr erbarme dich! Erbarme dich der Menschen in den Krisengebieten gerade jetzt in Israel und Palästina, aber auch in allen anderen Regionen dieser Welt. Schenke ihnen Frieden und Hoffnung und stärke sie in der Gewissheit, dass sie eines Tages frei und ohne Sorgen leben können. Herr, wir bitten dich, erhöre uns. Amen
Eine gesegnete Woche wünscht Ihnen und euch
Vera Schwarz Lektorin in Gronau und Niederdorfelden