Liebe Leserinnen und Leser,
Letzte Woche haben wir Danke gesagt, danke für die Ernte, für all das wunderschöne Gemüse, die Lebensmittel, die Brote, das Getreide. Unser Altar in Gronau war geschmückt – und noch diese Woche schmücken wir den Altar in Niederdorfelden für das gleiche Fest und einen wunderschönen Gottesdienst – mit Trubelkirche und Kartoffelsuppe. Und wieder legen wir die Erntegaben vor dem Altar – aber mit jedem Mal wird in mir, so schön und appetitlich das Gemüse strahlt, ein Gefühl lauter, dass diese Form des Denkens irgendwie deplatziert findet:
Erntedank, wofür danken wir? Unsere Lebensmittel, die wir alltäglich konsumieren sind oft anders als die schönen Äpfel aus dem Garten und die Kürbisse vom Feld zwischen Niederdorfelden und Frankfurt. Wir lassen zu, dass ganze Landstriche auf unserer Welt zu Gunsten der Fleischproduktion verwüstet werden – riesige Monokulturen entstehen in Spanien, in Brasilien und anderswo um die industrielle Landwirtschaft mit Futtermittel zu versorgen. Die Böden korrodieren, die Felder vertrocknen, Pflanzenschutzmittel und Dünger belasten die Meere und das Fischsterben beschleunigt sich – die Ostsee ist bereits in Teilen ein totes Meer, obwohl die Ostsee eigentlich ein besonderes Biotop ist.
Erntedank, wofür danken wir? Unser Gemüse im Discounter, was wir kaufen, was wir kaufen müssen, weil es eben nicht bei allen reicht für das teure Biogemüse, dass kommt aus riesen Plantagen – und Menschen, sogar in Europa, in Spanien, arbeiten dort unter bitteren Bedingungen – ausgebeutet, auf dass nicht nur der Ertrag stimmt sondern auch die Gewinnmarge der Zwischenhändler*innen und Supermärkte.
Erntedank, wofür danken wir? Landwirtschaft, Lebensmittelindustrie – all die, die uns versorgen, sind ein hart umkämpftes Gewerbe, mit Abgründen, die wir eigentlich kennen. Erntedank ist für mich schal geworden, soll ich wirklich danken? Sollte ich nicht eher klagen, aufbegehren?
Ja – unbedingt! Aber wie kann das gelingen? Sollten wir Erntedank abschaffen und zu einem Fest der Klage verwandeln? Nein. Aber wir dürfen eine Dimension von Danken eben nicht mehr vergessen, und die wird wunderbar ausgedrückt im Lied „Wir pflügen und wir streuen“ – darin heisst es: „Wachstum und Gedeihen liegt in Gottes Hand“. Mit anderen Worten: Es gibt immer etwas, was mir unverfügbar ist, was ich nicht beeinflussen kann. Es ist mir geschenkt, für mich zum Beispiel der Zufall hier in einem recht reichen Land mit vollen Märkten zu leben und keine Sorge zu haben, Hunger zu leiden. Dafür hab ich persönlich wenig getan. Und dafür danke ich, für das, was mir umverfügbar ist. Aber weil ich dafür danke, schöpfe ich Kraft, die Dinge in den Blick zu nehmen, die veränderbar sind: Die Ungerechtigkeit, denn dass Böden korrodieren, Menschen ausgebeutet werden und Meere kippen, ist eben nicht unverfügbar. Wenn ich mich zu Gott wende und danke, dann erwächst daraus eine Kraft, eine Kraft zur Veränderung – hin zu mehr Gerechtigkeit, für die Umwelt, das Klima, die Menschen und Tiere – für eine solidarischere Welt.
Also Erntedank? Ja, unbedingt – heute mehr denn je. So wünschen wir Ihnen – Dankbarkeit, die sich ausstreckt in den Himmel, die Farben in diese Welt malt, wie der Herbst und aus der heraus die Welt verwandelt wird.
Wir wünschen Ihnen ein wunderschönes langes Wochenende,
Herzliche Grüße
Ihre
Pfarrer*innen Maraike Heymann und Tobias Heymann