Liebe Leserinnen und Leser!
Gesichter sind einzigartig, Gesichter sind wunderschön – gesprenkelt mit Sommersprossen, Furchen vom Lachen, salzig verkrustet von Tränen, gerötet vor Kälte, gefüllt mit Brauen und Bärten, mit strahlenden Augen, mit lauschenden Ohren, mit sanft-rauen Lippen. Gesichter sind Ausweis unseres Lebens – hinter hoher Stirn sammeln sich Träume und Erinnerungen, in den Augen spiegeln sich die Geschichten von Liebe und Sehnsucht, Momente, in denen wir zugeschaut und weggeschaut haben. In der Nase kitzeln die Gerüche der Kindheit, auf den Lippen längst vergangene Berührungen.
„Judas, Judas,“ fragt Jesus, „du möchtest mich küssen? Das wagst du? Mit den Schergen bist du gekommen, mit den Ketten der Macht, mit den Knüppeln der Herrscher – und du wagst es mein Gesicht, meine Lippen zu küssen? Mit einem Kuss willst du mich zu verraten?“ (frei nach Lukas 22,48).
Ein Kuss auf die Lippen – das ist sinnliche Liebe, oder das ist kaltfeuchter Hauch; das ist Gewohnheit am Morgen, oder das ist Aufregung und Nervenkitzel; das ist manchmal roh und bitter, wenn er aufgezwungen, aufgeknutscht wird. Dann ist das Gesicht angegriffen, ist eine rote Linie überschritten. Dann ist das verletzt, was wir von uns in diese Welt zeigen.
Und einer derer, die dabei standen, also einer von Jesu Freund*innen, der nimmt ein Schwert und schlägt drein – schlägt nieder auf das Ohr von einem Schergen und Blut spritzt. (frei nach Lukas 22,49-50).
Und Jesus? Was tut Jesus, der Mensch, der sterben wird, den sie martern werden, dem die Dornenkrone mit Macht in die Gesichtshaut drücken werden, dem sie Essig geben werden, wenn er nach Wasser schreit? Jesus, verraten und verkauft durch Judas’ Kuss, – der heilt das Gesicht, der heilt das Ohr des Knechtes. Der lässt Judas gewähren, der wahrt die Würde eines jeden Gesichtes. Aber warum? Weil er den Spiegel in unser Gesicht hält und sagt: „Schau hin, du bist es – sieh, was du kannst, sieh, wer du bist, sieh, welch Abgrundtiefe in dir schlummert, und erkenne die Liebe, zu der du fähig bist, denn in deinem Gesicht schlummert auch Gottes Antlitz. – Und so ging Jesus ans Kreuz nach Golgatha und wir mit ihm zusammen hinauf zum Karfreitag.
Was sehen Sie, wenn Sie heute in den Spiegel schauen? Was sehen Sie in den Augen eines lieben Menschen? Was sehen Sie, wenn Sie sich auf der Straße umblicken nach den anderen? Vielleicht auch einen Schimmer Gottes, der uns ansieht.
So wünschen wir Ihnen eine gesegneten Weg in dieser Passionszeit hinauf nach Golgatha.
Ihre Pfarrer*innen
Maraike Heymann und Tobias Heymann