Liebe Leserinnen und Leser,

wie stellen Sie sich das Gedächtnis vor? Ist das ein großer Raum in einer Bibliothek mit unzähligen Bänden, aufgereiht Signatur an Signatur, mit langen Leitern und abgedunkelten Fenstern zum Schutz der Exemplare? Ist es ein verstaubter Dachboden, ein geheimnisvoller Keller? Wer weiß, was da zutage tritt, wenn man zu wühlen beginnt? –

Oder stellen Sie sich das Gedächtnis wie ein Buch vor, dessen leere Seiten Tag für Tag gefüllt werden? Man kann darin lesen, hat es schwarz auf weiß. Wenn das Material die Jahrhunderte überdauert. –

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann sagt, zu diesen räumlichen und schriftlichen Bildern fürs Gedächtnis kommen zahlreiche zeitliche Vorstellungen. Da wird Erlebtes eingefroren und aufgetaut, anderes, das schläft, wird geweckt – oder gar verschluckt und wiedergekaut. Augustin, der Kirchenvater aus dem 4. Jahrhundert, veranschaulicht das Gedächtnis als Magen der Seele.

Wie man sich das Erinnern auch vorstellt, eine Frage bleibt: Kann man das Erinnerte so zurückholen, wie man es eingelagert hat? Oder ist das gerade der Clou beim Erinnern: Was ich archiviere, ist nicht das, was ich hervorhole. Meine jetzige Situation trägt entscheidend dazu bei, was und wie ich mich erinnere. Und mit jedem Erinnern wird am Erinnerten gearbeitet.

Christen und Christinnen sprechen zuweilen davon, dass unser Leben in Gottes Erinnerung eingeht. Gottes Erinnerung kann bedrohliche Züge haben, denkt man an ein Buch, in dem jede kleinste Verfehlung sorgfältig aufgeschrieben wird. Die Vorstellung von Gottes Erinnerung kann aber auch trösten: Auch wenn die Menschen, die sich an mich erinnern gestorben sind, bleibe ich in Gottes Erinnerung lebendig.

In der Bibel wird Gott immer wieder dazu aufgefordert, sich an die Menschen zu erinnern oder an seine eigene Barmherzigkeit zu denken. Auch Gottes Erinnerung ist so wenig starr wie unsere, sondern kraftvoll und wirksam. Am eindringlichsten wird das für mich in der Geschichte von Noah. Die Arche treibt auf dem Wasser herum, der Pegel steigt immer weiter – da erinnert sich Gott an die Menschen und Tiere in der Arche und der Regen lässt nach. Gottes Erinnerung ist hier Rettung und Neuschöpfung.

Der kommende Sonntag heißt „Reminiszere“ und in den Kirchen wird daran gedacht, was passiert, wenn Menschen und Gott sich aneinander erinnern.

Wir wünschen Ihnen eine gesegnete Woche
Ihre Pfarrer*innen
Maraike Heymann und Tobias Heymann