„Du bist ein Gott, der mich sieht“ – sind diese Worte, die über dem neuen Jahr 2023 stehen ein Gebet? Schließlich richten sie sich an Gott. Oder ein Glaubensbekenntnis? Schließlich geht es hier nicht direkt um Lob oder Dank, sondern darum, wer Gott – für mich, für uns – ist. Im ersten Buch der Bibel sind diese Worte in erster Linie ein Name, ein Name Gottes, ein sprechender Name.

Hagar, eine junge schwangere Frau ist in die Wüste geflohen. Sie ist eine Sklavin, hat es aber bei ihrer Herrin nicht mehr ausgehalten, von der sie getriezt wird. Sie erwartet nämlich das Kind ihres Herren – seine Frau ist zu alt um Kinder zu bekommen, deshalb soll die Sklavin das verheißene Kind an ihrer statt zur Welt bringen. Und kaum war Hagar schwanger, hat die Herrin behauptet, sie benehme sich schlecht… Am Morgen, als sie sich aufmachte, hat die Verzweiflung Hagar noch Energie gegeben, aber jetzt verbrennt die Sonne ihre Haut, ihr Mund ist trocken vor Durst und die Kräfte schwinden.

Endlich erreicht sie eine Quelle. Das Wasser erfrischt und belebt sie. Als sie sich gerade den Staub aus dem Gesicht wäscht, hört sie eine Stimme hinter sich: „Hagar, woher kommst du? Wohin gehst du?“ Hagar weiß nicht, woher der Mann sie kennt; sie kennt ihn nicht. „Ich bin meiner Herrin davongelaufen“ erzählt sie und das bricht alles andere auch aus ihr heraus. Schließlich sagt der Mann: „Kehr wieder zurück. Ordne dich deiner Herrin unter und sei gewiss: Du wirst einen Sohn zur Welt bringen. Nenne ihn ‚Ismael‘ – das heißt: Gott hat gehört. Gott hat dich und dein Klagen und deine Not gehört. Gott verspricht dir: Ich werde dich und deine Nachkommen durch Ismael so zahlreich machen, dass niemand sie zählen kann.“ Als der Mann sie verlässt, fragt sich Hagar: Wer ist dieser Gott, dessen Bote da mit mir geredet hat? Ein Gott, der meine Stimme hört, ein Gott, der mich sieht? Und sie nennt ihn fortan nur noch El-Roi – und das heißt in unsere Sprache übersetzt: Du bist ein Gott, der mich sieht.

Würden Sie Gott einen Namen geben? Namen gebe ich eigentlich nur meinen Kindern, den Haustieren, und früher den Kuscheltieren. Vielleicht entwickelt sich im Laufe der Jahre noch ein Spitzname für einen guten Freund oder die Partnerin. Ist Gott mir so nahe, dass ich ihm einen Namen geben darf? Jesus hat Gott mit „Abba“, einem Kosewort für ‚Vater‘ angesprochen und hat es so auch seine Freunde und Freundinnen gelehrt. Kann ich genauso frei sein?

Aus dem Namen El Roi – Du bist ein Gott, der mich sieht, – spricht Hagars Erfahrung mit Gott. Sie legt durch den Namen nicht fest, wie dieser Gott ist, sondern erinnert sich daran, wie er sich ihr zugewandt hat. Hagar weiß sich gehört, Hagar weiß sich gesehen. Vielleicht ist „Du bist ein Gott, der mich sieht“ der Anfang eines Gebets. Vielleicht das Glaubensbekenntnis, aus dem sie in den folgenden Jahren Kraft geschöpft hat (und die waren auch nicht einfach → 1. Mose 21, falls jemand weiterlesen mag).

Wir wünschen Ihnen und uns für das neue Jahr Begegnungen mit diesem Gott, der uns sieht. Wir wünschen Ihnen und uns in dieser Welt, die aus den Fugen gerät, den Glauben an einen Gott, der sieht, was geschieht. Und wir wünschen Ihnen und uns, dass wir einander so ansehen können, wie wir angesehen sind.

Wir freuen uns auf das Jahr mit Ihnen in Gronau und Niederdorfelden, darauf, Sie (besser) kennen zu lernen und darauf, hier heimisch zu werden!

Bleiben Sie behütet!
Ihre Pfarrer*innen
Maraike und Tobias Heymann