Wochenspruch für den 12. Sonntag nach Trinitatis:
„Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ Jes.42,3
Im Sommer 1974 wurde ich Zeuge einer Diskussion über den Glauben. Da richtete jemand aus der Runde die Frage an mich, ob ich gläubig sei. Das stand für mich außer Frage, ich fieberte dem Beginn des Theologiestudiums entgegen, doch ich hörte natürlich die Anfrage, ob ich denn auch den rechten Glauben hätte. Nach dem Studium und 37 Jahren Gemeindepfarramt weiß ich, was ich schon damals spürte: Es ist eine Anmaßung, den Glauben anderer und auch den eigenen beurteilen, ja gar quantifizieren zu wollen. Das müssen wir dem überlassen, der den Funken des Glaubens in uns entfachen kann, der uns auch durch die tiefsten Zweifel tragen will. Er hat von dem Senfkornglauben gesprochen, der viel bewirken, ja Berge versetzen kann. Math. 17,20
Dazu begleitet mich seit Jahrzehnten eine Lebensgeschichte:
Ihren Namen habe ich inzwischen vergessen. Gegenwärtig ist mir, dass sie in ihrem Heimatort „Das Röslein“ genannt wurde. Angeblich deswegen, weil ihre Mutter in dem kleinen siebenbürgischen Dorf während der Feldarbeit über Charakter und Aussehen ihrer Tochter gesagt haben soll, sie sei stolz und schön wie eine Rose. Das war für die Dorfbewohner und die Enge ihrer Welt so ungewöhnlich, dass sie dafür nur Spott übrig hatten.
„Das Röslein“ blieb unverheiratet. Mit dem Pass des Königreichs Rumänien ausgestattet, lebte sie auf der Suche nach Arbeit selbstständig und unabhängig mehrere Jahre im Deutschland der vierziger Jahre. Also doch eine stolze Rose, die den Dorfburschen nicht viel abgewinnen konnte?
Als ich das Röslein kennenlernte, war sie vielleicht 75 Jahre alt. Ein Oberschenkelhalsbruch, der schlecht behandelt wurde, hatte sie zum Pflegefall werden lassen. Sie hatte stets mit ihrer Schwester und deren Familie zusammen gewohnt, die Nichten und deren Kinder mitversorgt. Als die letzte Verwandte mit ihrer Familie nach Deutschland ausreiste, kam sie in ein staatliches Pflegeheim. Das war eine heruntergewirtschaftete Aufbewahrungsstätte, wo geistig behinderte Erwachsene und körperlich behinderte Pflegefälle zusammen untergebracht wurden.
Ich erinnere mich sofort an sie, wenn ich einer Abbildung mit den betenden Händen von Albrecht Dürer begegne, diese abgemagerten und zusätzlich von der graphischen Gestaltung her müde wirkenden Hände, wie die kleinen, geradezu zerbrechlich wirkenden vom „Röslein“.
Es kostete mich jedes Mal ein Stück Überwindung, sie in der fernen, verwahrlosten und abgelegenen Anstalt zu besuchen. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal, ich atmete durch den Mund, um den Brechreiz zu unterdrücken. Aber mindestens zweimal im Jahr besuchte ich das Röslein und war dankbar, wenn wir das Abendmahl feierten. Manchmal begleiteten mich Kirchenväter (Mitglieder des Kirchenvorstands), die aus demselben Ort stammten, das war ein Stück Vertrautheit. Wie sehr sie innerlich mitging, vermag ich nicht zu beurteilen, eine Lähmung setzte auch ihrer geistigen Verfassung zu. Aber wenn wir das Vaterunser beteten, kam Bewegung in ihre zarten Hände, dann mussten die in einer ganz besonderen Weise gefaltet werden, das schien ihr wichtig zu sein. Und selbst ein Lied, von dem mir ihr Landsmann verriet, dass es während ihrer Schulzeit täglich zum Schulschluss gesungen wurde, sang sie mit:
„Unsern Ausgang segne Gott, unsern Eingang gleichermaßen
segne unser täglich Brot, segne unser Tun und Lassen.
Segne uns mit sel´gem Sterben und mach uns zu Himmelserben.“
Es mag sein, dass Menschen von dem, was ihr Christ-Sein ausmacht, nicht viel mehr bleibt als das Gebet, das Jesus seine Jünger lehrte, als diese in Verlegenheit waren und nicht wussten, wie sie beten sollten. Es kann sein, dass Menschen nicht mehr bleibt, als ein Kindergebet oder Kinderlied. Zum Beispiel „Weißt du wieviel Sternlein stehen…“ Aber das können sie unter Umständen auch als Pflegefall singen und zum Gute-Nacht-Ritual gehört, auch bei schwer Demenz-Kranken: Die Hände falten und das Vaterunser sprechen. Das soll und darf ihnen niemand nehmen, denn es macht wohl den Senfkornglauben aus, dem Jesus Großes verheißen hat.
Bleiben Sie zuversichtlich und behütet,
Ihr Hans Karl Heinrich, Pfr. i.R. Nieder-Florstadt