Ich erinnere mich: Es war ein paar Tage, nachdem am 19. Februar 2020 neun Menschen in Hanau innerhalb weniger Minuten gewaltsam umgebracht worden waren: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hasehemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

Ich hatte Notfallseelsorgedienst und wurde am frühen Samstagabend auf den Hanauer Friedhof gerufen. Eine Hanauerin wollte die Angehörigen und Freund*innen der ermordeten Hanauer auf diesen schweren Weg begleiten und spürte, dass ihr die Kräfte im Anblick der vielen Menschen und unzählig geweinter Tränen, versagten. Als ich am Gräberfeld der soeben beerdigten Mitbürger*innen angekommen war und gemeinsam mit der Hanauerin auf der Bank saß, spürte ich selbst meine eigene Fassungslosigkeit und Ohnmacht angesichts dieser fürchterlichen Tat.

Zwei Jahre sind die Morde aus rassistischen Motiven nun her. Ich sehe in die Gesichter dieser neun Menschen mehrmals die Woche, wenn ich am Heumarkt vorbeifahre: Junge Menschen, die voller Pläne für ihr Leben steckten. Junge Menschen, die eingebunden waren in ihren Familien, die wie ich, Arbeitskollege, Freund und Angehöriger waren. Sie durften nicht leben, weil ein Mensch voller Hass die Vielfalt von Leben nicht ertrug.

Zwei Jahre ist es her, dass dieser Mensch auch die eigene Mutter erschoss. Auch der Name von Gabriele Rathjen muss in diesen Tagen genannt werden. Auch ihr Leben wurde ausgelöscht.

Gemeinsam Wir. „Gemeinsam Wir sind die Bertha“, so heißt es bei uns an der Bertha-von-Suttner-Schule in Nidderau. Das „Gemeinsam Wir“ wird großgeschrieben. Wir üben das „Gemeinsam Wir“ tagtäglich ein. Wer zum Haupteingang der Bertha-von-Suttner-Schule hineinkommt, entdeckt das Logo „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Es weist darauf hin, dass die Schule Teil eines europaweiten Demokratie-Netzwerkes ist, dem mehr als eine Million Schüler*innen angehören: Junge Menschen, die sich – mehr als eine Million Mal vielfältig – bewusst gegen Rassismus und jede Form von Diskriminierung, Mobbing und Gewalt wenden, für ein respektvolles Miteinander an der Schule eintreten und dies ganz bewusst einüben.

Zwei Jahre sind diese schrecklichen und Menschenverachtenden Morde nun her und auch an diesem 19. Februar 2022 werden wieder Tränen um ausgelöschte Menschenleben beweint: Da steht der Vater und die Mutter am Grab ihres Kindes, die Ehefrau beweint den ermordeten Mann, die Kinder den Vater und die Freunde den Freund – und nicht nur in Hanau.

Wenn wir am Sonntag im Gottesdienst die 9 Namen lesen und hören, dann vertrauen wir darauf, dass alle Traurigkeit und alle geweinten Tränen bei Gott aufgehoben sind. Gott sieht sie an. (Psalm 56,9) Gott sieht aber auch uns an: Dass wir aufstehen und sagen, was ist und wo wir stehen. Dass wir zusammenstehen, die Hände zum Gebet falten, einander festhalten und Verantwortung für den Schutz des Lebens überall auf der Welt übernehmen, dafür eintreten und die Vielfalt des Lebens feiern.

Andrew Klockenhoff, Pfarrer an der Bertha-von-Suttner-Schule, Nidderau