I

Während ich den Wochengruß schreibe, läuft im Hintergrund Musik. „Dies irae, dies illa…“ aus der Kompositionsfeder von Giuseppe Verdi. „Dies irae dies illa, Solvet saeclum in favilla: Teste David cum Sibylla.“ Verdi vertont hier den mittelalterlichen Text, der zur Totenmesse in der römisch-katholischen Liturgie bis Anfang der 70er Jahre Verwendung fand. „Tag des Zornes, jener Tag löst die Welt in Asche auf nach dem Zeugnis Davids und Sibylla“ – so eine mögliche Übersetzung. Und der Text geht weiter: „Welch ein Graus wird sein und Zagen, wenn der Richter kommt, mit Fragen.“ (Lateinisch: Quantus tremor est futurus, quando iudex est venturus, cuncta stricte discussurus.) Wer die Musik zu diesem mittelalterlichen Text von Verdi oder auch aus dem Requiem von W.A. Mozart kennt, braucht eigentlich keinen Text um zu spüren, worum es hier geht. Pauken und Trompeten in großer Zahl, ein Chor, der aus tiefster Kehle in übergroßer Lautstärke das „Dies irae, Dies illa“ in den Raum stellt – hier muss es um etwas Großes, in gewisser Weise auch um etwas gehen, das von Gefühlen wie Angst und Schrecken begleitet wird.

II

Wir stehen am Ende des Kirchenjahres. An diesem Sonntag, dem vorletzten Sonntag im Kirchenjahr, gedenken wir den Verstorbenen der beiden Weltkriege und aller Kriege in der Welt. Wir klagen und beklagen, was Menschen einander Leidvolles angetan haben und bis heute einander antun. Und ja, wir bedenken am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres auch, dass all unser Tun vor Gott zur Sprache kommen wird. Zur Freiheit des Menschen gehört, Verantwortung zu übernehmen für das eigene Tun. So heißt es dann auch im Wochenspruch zum Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres „Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi“ (2. Kor 5a).

Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi“. Die Texte, die in mittelalterlichen Stuben zu dieser Glaubensüberzeugung entstanden sind, haben Komponisten in hochdramatischen und -bedrohlich wirkenden Kompositionen vertont. Anders (als hochdramatisch und bedrohlich) kann doch dieses ‚offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi‘ nicht von statten gehen. Dieses Denken hat nicht nur mittelalterliche Autoren und Komponisten in den Bann gezogen. „Warte nur, wenn … – dann kannst du etwas erleben“ – fällt mir dazu ein und komme mir ganz klein und verletzbar vor. „Warte nur, wenn … – dann wirst du sehen, was du davon hast.“ Ich bin sicher, dass keinem Menschen dazu nichts einfällt. Und ich bin ebenso sicher, dass sich andere Gefühle einstellen als (m)eine ‚Gänsehaut‘ bei Verdis oder Mozarts „Dies-Irae-Vertonungen“.

III

Auf dem Stundenplan meiner 8.Klässler*innen steht gerade im Reliunterricht das Thema „Reformation“. Ja, wir sprechen auch über den mittelalterlichen Menschen und sein Weltbild. Wir deuten die großen Bilder, die zum Thema Weltgericht („…offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.“) entstanden sind und was sie in den Menschen ihrer Zeit ausgelöst haben – eben Angst und Schrecken – aber nicht als Gänsehautfeeling, sondern in aller Wucht – so ganz existentiell und bedrohlich. Luthers Gottesbild ist zunächst ganz in seiner Zeit verhaftet. Aber mit der Erkenntnis und dem festen Glauben, das kein noch so gutes Werk Gottes Blick auf uns ändern kann, eröffnet einen neuen Blick auf die letzten Dinge, mit denen wir uns gar in diesen Tagen am Ende des Kirchenjahres verstärkt beschäftigen.

IV

Da kommt Einer zurück, der doch ausgezogen war mit dem Erbe des Vaters in der Tasche. „Er hat´s vergeigt“ – so würden wir heute vielleicht sagen. Er wollte eben vom Vater weg, hinausziehen und der eigene Herr im Hause sein und eine Freiheit genießen, die ohne heilsame Begrenzungen auskommt. Er verjubelte alles Geld und hatte am Ende noch weniger als die Schweine, auf die er als Tagelöhner aufpassen sollte. Er macht sich wieder auf den Weg nach Hause. Und der Vater sieht ihn von ferne kommen (Lk 15,20b) und schließt ihn in seine Arme. Der Vater sieht den Sohn von ferne kommen. Der Vater fragt nicht nach, wo denn das ganze Geld geblieben ist. Er sieht ihn ja vor sich stehen – zerknirscht und kaum wiederzuerkennen. Er hält ihm keine Strafpredigt und fordert auch keine Wiedergutmachung, damit er ihn wieder in seinem Hause aufnimmt. Der Vater schließt den, der vor ihm steht, fest in seine Arme und hebt ihn zu Ehren – stattet ihn mit Ring und Kleid festlich aus und richtet ein Festmahl für den zurückgekehrten Sohn aus.

V

„… offenbar werden vor dem Richterstuhl…“

Mit dem „Verlorenen Sohn“ erreicht mich auch der Wochenspruch zum vorletzten Sonntag im Kirchenjahr und löst keine Angst und Schrecken in mir aus. Ganz im Gegenteil: Der liebende Blick Gottes auf mich, lässt mich mit allen meinen Widersprüchen leben und richtet mich auf und neu aus – zum Leben (zu dem auch das Übernehmen von Verantwortung gehört).

Ein Lied, das auf den Kirchentagen meiner Zeit immer hoch im Kurs stand, bringt das in schöner Weise auf den Punkt:

Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Haus. Frei sind wir, da zu wohnen und zu gehen. Frei sind wir, ja zu sagen oder nein. Herr deine Liebe ist wie Gras und Ufer …

Wir wollen Freiheit, um uns selbst zu finden, Freiheit, aus der man etwas machen kann. Freiheit, die auch noch offen ist für Träume, wo Baum und Blume Wurzeln schlagen kann. Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer …

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag!

Andrew Klockenhoff
Schulpfarrer an der Bertha-von-Suttner-Schule Nidderau