Sonntagsgruß für den 12. Sonntag nach Trinitatis, 22. August 2021
Manchmal sind wir alle blind. Nicht nur, wenn wir stolpern oder wie Hanns Guck-in-die-Luft gegen einen Laternenpfahl stoßen. Manchmal sind wir auch im übertragenen Sinne blind und nehmen die Nöte und Sorgen unserer Mitmenschen nicht wahr. Manchmal sind wir sogar blind für unser eigenes Leben und wissen nicht, wie es weitergehen soll. Und manchmal meinen wir, alles sei in Ordnung, und erleben dann, dass wir uns darin gehörig getäuscht haben. Wir sind es gewohnt, manche Dinge nicht zu sehen, nicht wahrzunehmen. Und oft fällt uns das noch nicht einmal auf.
Dabei können wir froh sein, dass blinde Menschen heute eine Menge Unterstützung erfahren und nicht mehr verachtet, verstoßen und womöglich vertrieben werden. Das war zu Jesu Zeiten so, weil man sich Blindheit medizinisch nicht erklären konnte und deshalb meinte, der Blinde habe gesündigt, also etwas ausgefressen, etwas falsch gemacht oder Schuld auf sich geladen. Man konnte solch eine körperliche Einschränkung nur als Strafe Gottes verstehen, die ja ihren Grund haben müsse.
So ist es verständlich, dass die frühen Christinnen und Christen von Jesus eine Menge Wunder erzählen. Denn er ist mit den Menschen anders umgegangen, hat ihr wahres Wesen erkannt und sie nicht nach Äußerlichkeiten beurteilt. Und er war der Meinung, dass man selbst nach einer Verfehlung einen Neuanfang verdient hat. Deshalb hat er Menschen die Augen geöffnet, folgt man den Erzählungen der Bibel, durchaus im buchstäblichen Sinn. Der Blinde in dem Dorf Betsaida jedenfalls hat nach einer Begegnung mit Jesus Schritt für Schritt sein Augenlicht gefunden. (Markus 8,22-26)
Ob das Auflegen der Hände und das Bestreichen der Augen mit Speichel den Blinden wirklich sehend gemacht hat, sei dahingestellt. Auf alle Fälle hat er aber eine neue Sicht der Dinge gewonnen. Und das vor allem im übertragenen Sinn. Denn ihm ist klar geworden, wer ihm da gegenüber stand und wer ihn berührt hatte. Er hat in der Begegnung mit Jesus Gottes Güte und Liebe erkannt – und damit Gott selbst. Er hat erkannt, dass dieser Jesus aus Nazareth niemand anders ist, als der Messias, auf den man schon seit Jahrhunderten wartete.
Aber nicht nur der Blinde ist sehend geworden. Auch die anderen Menschen, die die Szene erlebten, hatten eine Erleuchtung, allen voran die Jünger. Sie hatten bis dahin auch nicht wirklich gewusst, wer Jesus ist. Aber durch den geheilten Blinden von Betsaida ist ihnen das Licht aufgegangen, dass Jesus der erwartete Messias, der Gesalbte, der Christus ist. Petrus spricht das kurz danach, gewissermaßen programmatisch aus: „Du bist der Messias!“
Wer weiß, vielleicht kann Jesus ja auch uns die Augen öffnen. Vielleicht können wir aus dem Glauben an ihn heraus die Dinge, unsere Mitmenschen, aber auch uns selbst mit anderen Augen sehen. Seien wir gespannt!
Einen offenen Blick wünscht Ihnen
Ihr Pfarrer Michael Ebersohn