Sonntagsgruß für den 4. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juni 2021
Wieder ein Ausspruch Jesu, der zur Redensart geworden ist: „Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst diu nicht wahr?“ (Lukas 6,41) Wir neigen ja dazu, andere ganz genau zu betrachten, wie sie sind, was sie machen, was sie reden. Und mit Urteilen sind wir schnell bei der Hand: „Der ist ja komisch“, „Das würde ich so nicht machen“, „Die redet dummes Zeug!“
Allzu oft kreisen wir in unserem Denken und Fühlen um uns selbst. Normalerweise nehmen wir unser eigenes Gefühl zum Maßstab, wenn es daraum geht, etwas für richtig oder falsch zu halten. Das liegt ja auch nahe, denn wir müssen in unserem Leben immer wieder für uns entscheiden, was richtig und was falsch ist. Im Großen wie im Kleinen. So entwickeln wir im Laufe der Zeit unsere eigene Sicht der Dinge, die uns bei den Entscheidungen hilft. Wir haben persönliche Maßstäbe, an denen wir uns orientieren. Das ist gut und richtig so, und wahrscheinlich ginge es auch gar nicht anders.
Zum Problem wird das aber, wenn wir unsere persönlichen Maßstäbe auch an andere anlegen. Und das geschieht weit öfter, als uns lieb ist. Denn andere Menschen haben natürlich ihre persönlichen Maßstäbe. Manchmal vergessen wir das, manchmal nehmen wir die gar nicht wahr, manchmal verstehen wir sie auch nicht, weil sie ganz anders sind als unsere eigenen.
Deshalb ist es wichtig, unser Gegenüber wahrzunehmen, zuzuhören, was er oder sie sagt, erst einmal zu verstehen, warum er oder sie so redet oder sich so verhält. Wir sollten den Splitter im Auge des anderen schon genau betrachten. Sonst könnte es ja passieren, dass wir beim Entfernen mehr Schaden anrichten als nötig.
Aber den Balken im eigenen Auge sollten wir immer bedenken. Denn der kann uns blind machen für den anderen, kann uns vorschnell auf das zurückgreifen lassen, was wir kennen, nämlich unsere Sicht der Dinge. Dieser Balken kann echte Anteilnahme verhindern und damit auch echte Hilfe. Ihn auszureißen bedeutet, den Blick frei zu haben für die Nöte des anderen, für seine Person und Persönlichkeit.
„Seid barmerzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Unter dieses Motto stellt Jesus seinen Satz vom Splitter und vom Balken (Lukas 6,36). Gott sieht uns alle an in unserer Eigenheit, in dem, was uns ausmacht und prägt. Aber er verurteilt uns nicht, sondern wendet sich uns zu, auch wenn wir mit dem, was wir tun oder reden, falsch liegen. Diese Eigenschaft Gottes, seine Barmherzigkeit könnte – und sollte – für uns Maßstab und Orientierung sein, damit wir immer auch an den Balken in unserem Auge denken.
Seien Sie gesegnet und angenommen von Gottes Barmherzigkeit!
Ihr Pfarrer Michael Ebersohn