Die Nacht ist vergangen

Der Herr ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden, Halleluja!

Nacht deckt die Welt.

Die Nacht der Sünde und der Angst,

die Nacht, in der das Leben weicht

und die sich schweigend über alles legt.

Wie weit ist es vom Tag zur Nacht,

von der Nachtwache bis zum nächsten Morgen?

Wie weit reicht diese Nacht,

die wir durchschreiten müssen

bis es endlich auch für uns Tag wird?

Aber nur, wenn wir dieses Dunkel durchmessen,

bekommen wir eine Ahnung von dem Geheimnis, 

das uns in der Auferstehung zuteil wird.1

WANN IST DIE NACHT VORÜBER?

Dieses Ostern fühlt sich anders an. Das zweite Mal ohne Gottesdienste, ohne Osternächte und Osterfeuer, ohne große Familienfeiern, unbeschwertes Zusammensein, gemeinsames Essen und Trinken. Es fühlt sich anders an. 

Zum einen, weil der Rhythmus des Jahres durch den Lockdown in meinem Kopf aus den Fugen geraten ist: Die Passionszeit ist verflogen, ohne, dass ich sie richtig wahrnehmen konnte. Was, schon Ostern nächste Woche? Die Zeiten verschwimmen vor dem immer gleichen Hintergrundton der Nachrichten, der Maßnahmen. Feiertage und Sonntage sind nur noch schwer als solche auszumachen.

Zum anderen fühlt es sich nicht nach Ostern an, da bin ich ganz ehrlich, weil ich weiß, dass das Sterben weitergehen wird nach diesem Feiertag. Die Zahlen steigen kontinuierlich, die Gegenmaßnahmen greifen nur langsam und das Unverständnis in der Bevölkerung wird größer.

Wie also Ostern feiern – den Sieg des Lebens über den Tod – in einer Zeit, die von einer Pandemie, von Angst vor Krankheit, Leiden und Tod geprägt ist?

„Wächter, wann ist die Nacht vorüber?“ heißt die bange Frage in Jesaja 21,12. Ich möchte einstimmen in diese zunehmend drängendere Frage: Wann ist die Nacht vorbei? Wann haben wir es endlich geschafft? Wann werden wir wieder unbeschwert Gemeinschaft erleben dürfen? Wann hört das Sterben endlich auf?

Wächter, wann ist die Nacht vorüber?

BALD KOMMT DER MORGEN, NOCH IST ES NACHT!

Mit dieser Frage gehe ich in dieses Osterfest und ich lese bei Jesaja, was der sog. Wächter antwortet:

„Bald kommt der Morgen, noch ist es Nacht“.

Diese Woche beschreiben ein Dazwischen.

Zwischen Nacht und Tag.

Zwischen Leid und Erlösung.

Zwischen Angst und Mut.

Zwischen Trauer und Freude.

Zwischen Verzweiflung und Hoffnung.

Bald kommt der Morgen. Noch ist es Nacht. 

Karsamstag. Die Zeit im Dazwischen.

Noch ist es Nacht. Noch leben wir in einer Welt, in der Krieg, Hunger, Krankheit und Tod an der Tagesordnung sind. Noch ist es Nacht. Aber da ist auch schon die Hoffnung: dass der Tag, die Erlösung, der Mut, die Freude schon im Anbrechen sind. Noch nicht da, aber schon vor unseren Augen. Noch ist es dunkel, aber bald kommt die Dämmerung. Erste Zeichen der Hoffnung sind schon am Horizont zumindest zu erahnen.

Es gibt sie noch, die Zeichen der Hoffnung, für unsere Welt, für unser ganz persönliches Leben. Mitten in der Nacht. Über eines davon wurde am Palmsonntag im Weltspiegel berichtet. Es hat mich tief berührt.

Seit sechs Jahren herrscht im Jemen Krieg. Der Junge, von dem ich spreche, ist heute 15 Jahre alt. Seit er 9 Jahre alt ist, kennt er nichts als Krieg, Zerstörung, Leid und Tod. Wie erträgt man es, unter solchen Umständen zu leben, groß zu werden unter Bombenhagel? Diese Frage können nur die beantworten, die das erlebt haben. Ich weiß, es sind einige auch in unserer Gemeinde. 

Er baut die Gebäude seiner Heimat wieder auf. Aus Holzresten und Pappkartons modelliert er sie nach und baut nach und nach das wieder, was ihm und allen anderen genommen wurde. Seine echte Heimat ist zerstört. Er baut sie wieder auf, so, wie er sie noch gekannt hat. Ein Zeichen der Erinnerung, ja. Aber auch ein Zeichen der Hoffnung. Von einem, der bewahrt, was war. Aber auch von einem, der unerschütterlich an die Zukunft seiner Heimat glaubt.

Bald kommt der Morgen. Noch ist Nacht.

DIE NACHT IST VERGANGEN

Genau das sind die beiden großen Hoffnungen, die uns als Christen geschenkt sind. 

Die eine richtet sich nach vorne: dass wir trotz allem daran festhalten, dass diese Welt Gottes Welt ist und bleibt. Dass es eine Zukunft für sie und für uns gibt. Dass es einmal so sein wird, dass die Lahmen tanzen, die Stummen singen und die Grenzen sich öffnen. Dass es einmal so sein wird, dass die Tyrannen von ihren Thronen gestürzt sind und dass die Toten leben.

Die andere Hoffnung heißt: Es war einmal. Sie erzählt davon, dass das Leben nicht einem Zufall zu verdanken ist, sondern dass alles einen guten Anfang hat. Sie erzählt davon, wie Gott seinem Volk treu geblieben ist und es aus der Knechtschaft befreit hat. Und sie erzählt davon, dass Gott seinen einzigen Sohn gegeben hat. Davon, dass am Ende das Leben siegt. Dass Jesus von den Toten auferweckt wurde.

In der Auferstehung Jesu vereinen sich beide Hoffnungen. Gott setzt ein Zeichen der Hoffnung, indem er Jesus zu einem neuen Leben auferweckt. Und wir vertrauen darauf, dass er das, was er an Jesus getan hat, auch an jedem anderen Menschen tun wird. Seine Liebe sagt uns, dass er die Tränen abwischen und den Gedemütigten und Ermordeten Recht verschaffen wird. 

Im Römerbrief schließt sich der Kreis um die Frage aus dem Jesaja-Buch: Auf die Frage: Wächter, ist die Nacht bald hin? erfolgt die Antwort:

Die Nacht ist vergangen.

Ja, die Nacht ist vergangen an jenem ersten Osterfest. Und doch war da noch viel Angst und Schrecken unter den Frauen, die die frohe Botschaft gehört haben. Sie brauchten den Engel, der ihnen sagt: Ihr könnt euch auf mein Wort verlassen.

Und auch wir haben diesen Engel bitter nötig. Einen, der uns sagt:

Das Leben geht weiter.

Alles wird gut.

Ich bin bei dir.

Du musst da nicht allein durch.

Das Leben wird siegen.

Die Liebe wird siegen.

Es gibt sie in unserer Welt, sogar tagtäglich, die Erfahrungen von Liebe, die Menschen berühren und sie etwas von dem Leben, das Gott schenkt, erahnen lassen. Die Erfahrungen der Schönheit des Lebens. Die Erfahrungen des Trostes. Die Erfahrung, dass das Leben noch etwas für uns bereithält – trotz allem.

Ostern heißt, über den Karfreitag hinauszugehen, sich auf etwas einlassen, was sich der sinnlichen Wahrnehmung entzieht und was so vielen menschlichen Erfahrungen widerspricht: Gott hat dem Tod die Macht genommen. Der Morgen kommt. 

Setzen wir also Zeichen der Hoffnung für dieses Morgen – auch an diesem Ostern: mit einer Blume, die das Kreuz schmückt, mit einem Licht, davor entzündet, mit einem Gespräch auf dem Weg, mit einem Lied, für Gott gesungen, mit Gesten der Liebe und Worten, die der Hoffnung Ausdruck geben: Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden! Halleluja!

In dieser stillen Nacht, in dieser hellen Nacht,

in jeder Nacht und an jedem Tag ist Gott mit dir.

So segnet und behütet dich Gott, der Lebendige,

der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Im gemeinsamen Glauben an die Auferstehung und mit allen guten Wünschen für ein gesegnetes Osterfest grüßt Sie herzlich

Ihre Pfarrerin Johanna Ruppert


Quelle:

1  Milstein, Werner, Osterkreis, Göttingen 2007, S. 9