Warum hast du mich verlassen?
Wir gehen den Weg mit Jesus hinauf nach Golgatha. Sein Leidensweg wird zu unserem. Und unser Leidensweg wird zu seinem, wir hineingenommen in seinen Weg hinauf zum Kreuz. So können wir manches Schwere in unserem Leben als Kreuz verstehen, das uns aufgegeben ist, an dem wir wachsen und reifen. Aber daneben steht das, was uns unbegreiflich bleibt: sinnloses Leid, dunkle Gedanken, millionenfaches Sterben, Einsamkeit, Schuld. Am Karfreitag vereinen wir unsere Stimme mit der von Jesus und fragen: Warum, Gott?
Mein Gott, mein Gott, warum?
In deinem Wort am Kreuz, Herr,
in deinem trostlosen Sterben,
erkenne ich die vielen dunklen und trostlosen Worte,
die mir immer wieder, fast täglich, zu Ohren kommen.
Mein Gott, mein Gott, warum?
In deinem Wort am Kreuz höre ich die Klagen, die mich nicht loslassen,
die Schreie von Menschen aus aller Welt,
Schreie nach Brot, nach Wasser,
nach Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden.
Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?
Du nimmst mir meine Verlassenheit,
du stirbst auch für mich, damit ich lebe,
damit ich niemals mehr ganz und gar verlassen bin.1
GEMEINSCHAFT
Es beginnt mit der Gemeinschaft.
Die Jünger scharen sich um Jesus, der auch in dieser Situation der Souveräne bleibt. Er weiß, wo alle Raum finden können, er trifft die Vorbereitungen. Er feiert mit den Jüngern das Passamahl. Die letzte gute Zeit, die die 13 gemeinsam haben. Wo getrauert wird, da höre ich oft:
„Lass uns die guten Zeiten in Erinnerung behalten“. „Ich möchte mich so an ihn erinnern, wie er war, als es ihm noch gut ging“.
Und vielleicht hilft da ein Erinnerungsstück, ein Gegenstand zum Festhalten, der aufgeladen ist mit Erinnerungen an Gemeinsames, an die Liebe und Güte. „Diese Kette hat mir meine Oma geschenkt, sie selbst hat sie getragen“. „Das ist der Ehering meines Vaters, ich trage ihn jetzt“. „Dieses Buch hat meiner Mutter besonders viel bedeutet.“
Auch die Jünger bekommen an diesem Abend ein Zeichen der Erinnerung: Brot und Wein – dazu neue, andere Worte. Nicht das, was sie erwartet haben. Von einem neuen Bund mit Gott spricht Jesus. Von Gemeinschaft mit ihm auch nach seinem Tod. Aber noch verstehen sie das nicht.
Vielleicht spüren sie es. Die Stimmung ist nicht ausgelassen, so wie an anderen Festen, an denen Jesus sonst auch gerne gefeiert hat. Er sagt Seltsames. Er spricht von Verrat. Und da verlässt einer die Gemeinschaft.
EINSAMKEIT
Die Einsamkeit beginnt. „Die schwersten Wege werden allein gegangen“ hat jemand gesagt. Im Garten Gethsemane wartet Jesus auf seine Verhaftung. Er sehnt sich danach, dass die Gemeinschaft von eben erhalten bleibt: „Wachet mit mir“. „Betet mit mir“. Aber die anderen scheinen noch nicht verstanden zu haben.
Jesus geht also allein ins Gebet mit Gott. Er sucht die Verbindung zu ihm. Eine Beziehung, die ihn jetzt noch retten könnte. Während er Gott anfleht, doch diesen Kelch an ihm vorübergehen zu lassen, schlafen seine Freunde. Ein tiefer Moment der Einsamkeit in der Dunkelheit des Gartens. Dreimal betet Jesus dasselbe Gebet und immer endet es mit den Worten: „Dein Wille geschehe“.
Wie schwer mögen diese Worte ihm über die Lippen gekommen sein angesichts seiner bevorstehenden Verhaftung! Wie schwer, Gottes Willen geschehen zu lassen, wenn man weiß, dass er einen ans Kreuz führt. Eine Zumutung! Und doch: Jesus wird ruhiger. In allem, was danach passiert, tritt er als einer auf, der das Bevorstehende kennt und annimmt.
ANGST
Seine Jünger aber packt die Angst. Als Jesus verhaftet wird, wachen sie auf. Sie werden kopflos. Versuchen, Jesus, der immer gewaltlos blieb, mit dem Schwert zu verteidigen. Angst treibt sie um. Was macht Angst mit uns Menschen?
Der eine geht auf Angriff.
Viele andere fliehen, bevor es auch sie trifft.
Die, die noch in Jerusalem geblieben sind, verleugnen, diesen Jesus jemals gekannt zu haben. Jetzt, wo ohnehin alles vorbei ist, gilt es, die eigene Haut zu retten.
Einer, dem klar wird, was er mit seinem Verrat angerichtet hat, setzt seinem Leben ein Ende. Zu groß die Schuld. Zu groß die Angst, damit zu leben.
Angst macht die, die einst alles aufgegeben haben, um Jesus nachzufolgen, von der einen auf die andere Sekunde zu Gewaltbereiten, Leugnern, Verrätern. Menschlich ist das. Allzu menschlich.
Was Angst alles mit uns macht.
VERLASSENHEIT
Jesus ist jetzt nicht mehr nur einsam, er ist verlassen. Seine Freunde haben ihn verlassen. Da ist niemand, der ihn verteidigt. Niemand, der für ihn in die Bresche springt. Niemand, der ihn noch retten könnte.
Er wird verspottet.
Er wird gedemütigt.
Er wird gefoltert.
Er wird ans Kreuz geschlagen.
Das ist das Ende.
Und dann sein verzweifelter Schrei:
„Mein Gott, mein Gott. Warum hast du mich verlassen?“
Jesu Schrei ist nicht nur der Schrei seiner eigenen Gottverlassenheit. Sein Schrei ist unser Schrei. Es ist der Schrei der Welt. Jesu Schrei ist der Schrei der Menschheit angesichts der Karfreitage dieser Welt.
Jemen. Es herrscht seit Jahren ein blutiger Bürgerkrieg. Die Situation hat sich zur größten humanitären Krise der Welt entwickelt. 24 Millionen Menschen – 80 Prozent der Bevölkerung – sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. 8,4 Millionen Menschen akut vom Hungertod bedroht. Krieg, die verheerende Cholera-Epidemie und Hunger führen zu unermesslicher Not. Es ist Karfreitag. Warum hast du uns verlassen, Gott?
Somalia. Hunderttausende Menschen müssen aus ihrer Heimat fliehen. Die einen vor Gewalt und Angriffen, noch mehr werden durch die Folgen des Klimaschocks wie Überschwemmungen oder Dürren vertrieben. Im Jahr 2019 waren fast eine Million Kinder von akuter Mangelernährung bedroht. Schwerwiegende Folgen für ihre künftige Gesundheit und die der folgenden Generationen gehen damit einher. Eins von sieben Kindern stirbt, bevor es fünf Jahre alt ist. Es ist Karfreitag. Warum hast du uns verlassen, Gott?
Die Welt. Es herrscht eine globale Pandemie. Das Virus kann sich in Regionen, deren medizinische Versorgung und Hygienestandards am untersten Level sind, weiterverbreiten und mutiert. Damit stellt es eine Bedrohung für die ganze Weltbevölkerung dar. Die einen haben den Impfstoff, von dem den anderen nichts übrigbleibt. So viele Menschen sterben. Es ist Karfreitag. Warum hast du uns verlassen, Gott?
Jesus schreit am Kreuz unseren Schrei mit. Er schreit den Schrei der Menschen Jahrtausende vor ihm und Jahrtausende nach ihm. Er schreit den Schrei derer, die verstummt sind angesichts ihres Leids. Den Schrei derer, die ihren Glauben an Gott verloren haben. Er schreit den Schrei der Gottverlassenen.
STERBEN
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ schreit Jesus. Und dann stirbt er.
Es gibt Situationen im Leben, da hilft nur noch der Blick auf das Kreuz als einzige Hoffnung. Der Blick auf den, der da für uns leidet und der keine Antwort auf seine verzweifelte Frage erhält.
Am Ende ist es genau dieser Blick – von mir weg, hin zum Gekreuzigten – der mir die richtige Richtung zeigt: Nämlich, dass ich mich mit all meiner Schuld, mit all meinem Schmerz und mit allen meinen Fragen Gott in die Arme werfe. Am Ende muss ich von mir selbst ablassen. Am Ende meiner Belastbarkeit, am Ende meiner Leidensfähigkeit, am Ende meiner Kraft, am Ende meines Lebens. Am Ende muss ich von mir selbst ablassen. Und Gott walten lassen.
Jesus schreit in den Himmel hinein, wo Gott offenhält, was uns so verschlossen und am Ende erscheint. Weil Gott anders denkt als wir, können wir immer hoffen: Dass wir Schmerz tragen lernen. Dass Menschen uns beistehen. Dass wir Trauer in Dankbarkeit verwandeln. Dass wir vergeben können. Dass doch noch alles gut wird. Weil Gott das offene Ende von allem ist, hoffen wir. Hoffen wir, dass der Tod uns nicht versinken lässt in ein ewiges Dunkel. Hoffen, dass wir leben werden. Leben in Gottes Händen.
Es beginnt mit der Gemeinschaft. Es endet mit einem verzweifelten Schrei der Gottverlassenheit. Das gilt es an Karfreitag auszuhalten. Richten wir unseren Blick also auf Jesu Kreuz: Denn wo wir Gott am fernsten vermuten, da ist er uns am nächsten. Amen.
Wir halten, wenn wir gehen,
nur wenig in der Hand.
Was bleibt? Man wird es sehen,
Was war, wird rasch verkannt.
Wir glauben, wenn wir gehen,
an einen neuen Tag.
Mag Altes auch vergehen,
es nimmt uns in Beschlag.
Wir ahnen dunkle Stunden,
und schweigen macht sich breit.
Die Hände sind gebunden.
Mut weicht der Müdigkeit.
Wir hoffen, wenn wir gehen,
auf deinen neuen Geist.
Auf Klarheit und Verstehen,
und dass du uns verzeihst.
Drum segne du unser Kommen, unser Gehn,
ebne den Weg, wenn das Land zur Wüste wird.
Bricht Brot den Hungrigen,
Wege den Suchenden.
Gott der Verlorenen – segne uns!2
Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden. Uns aber, die wir selig werden, ist‘s eine Gotteskraft.
Bleiben Sie behütet!
Ihre Pfarrerin Johanna Ruppert
Quellen:
1 Stephan Goldschmidt, Meditative Abendgottesdienste II, Göttingen 2011, S. 92
2 Gerhard Engelsberger, Wir kommen auf Umwegen, Karlsruhe 1990, S. 19