Ich will gerade aus dem Haus gehen, als es an der Tür klingelt. Ein Mensch aus der Gemeinde steht vor der Tür und ich weiß sofort, dass ich meine Pläne für den Nachmittag ändern muss. Und so bitte ich den nachmittäglichen Besuch ins Haus. Ich höre zu, gieße Wasser zum Trinken ein und reiche Taschentücher. Wir wechseln Worte, nicht viele – sitzen schweigend beieinander. Und so geht der Nachmittag vorüber. Irgendwann steht der Gast auf und verabschiedet sich mit: „Vielen Dank, dass ich so lange hier sein durfte und Sie das mit mir ausgehalten haben. Ich gehe jetzt mal.“ „Dass Sie das mit mir ausgehalten haben“ – dieser Satz geht mir lange nach. Ein Mensch, gefangen in Sorgen und Nöten, brauchte einen Moment der Zuwendung – ohne viele Worte, ohne Lösungsansatz und völlig klar, dass die belastende Situation nicht aus der Welt war.

Ja, Menschen müssen manchmal vieles aushalten: Da wird der geliebte Partner, die Partnerin krank und Heilung ist nicht in Sicht. Da machen sich Eltern Sorgen um das heranwachsende Kind, das – früher so fröhlich – sich immer mehr einigelt und von der Außenwelt abkapselt. Da erkrankt ein nahestehender Mensch schwer und ringt im Krankenhaus um sein Leben. Da ist ein junge Mutter mit dem Rad auf dem Weg zur Arbeit und verunglückt tödlich – ein Autofahrer hatte sie nicht rechtzeitig gesehen. Da spüren Eheleute, dass der einst gemeinsam eingeschlagene Weg zu Ende geht.

Ich könnte die Liste der leidvollen Erfahrungen weiterführen und käme doch zu keinem Ende, wenn ich alles, was uns Menschen im Leben widerfahren kann, aufzählen würde. Ja, Menschen müssen manchmal vieles aushalten – manches ein langes Leben lang – das ist wahr.

Hiob ist ein erfolgreicher Mensch. Hiob ist reich, er besitzt riesige Herden von Schafen, Kamele, Rinder und Esel. Er ist stolzer Familienvater, verheiratet und hat viele Töchter und Söhne. Und er ist ein frommer, gottesfürchtiger Mensch. Doch eines Tages wendet sich (nicht ganz zufällig) das Blatt und sein Leben verändert sich: Er wird krank, gar fürchterlich krank. Und damit nicht genug, nein, das Unglück breitet sich aus. Alles, was ihm in seinem Leben wichtig ist, verliert er: Seine Tiere sterben, sein ganzer Reichtum und aller Besitz – ja, sein ganzer Wohlstand löst sich in Wohlgefallen auf und wird ihm genommen. Und das Schlimmste, das Eltern widerfahren kann, trifft ihn mit aller Wucht: Seine vierzehn Kinder werden in dem, durch einen Sturm eingestürzten Wohnhaus, getötet. Was für ‚Hiobsbotschaften‘ muss dieser Hiob aushalten?! Alles ist ihm genommen worden.

Wie soll man das denn jetzt aushalten können? Das geht doch gar nicht, denke ich und weiß sofort, dass es heute im Jahr 2021 unzählige Menschen auf der Erde gibt, die in ihrem Leben die Erfahrung des Loslassens was für sie wichtig und wertvoll war, machen mussten: Menschen, Gesundheit, Hab und Gut – und anderes mehr.

Gut, wenn man dann Vertraute, Freunde hat. Die Freunde haben von dem Unglück Hiobs gehört. Sie kommen, setzen sich nieder und halten zunächst schweigend aus, was doch eh niemand erklären kann. Und dann bricht es eben doch aus ihnen heraus und sie suchen gemeinsam mit Hiob nach möglichen Antworten auf die Frage nach dem „Warum“? Warum ist das alles geschehen? Warum konnte dies oder jenes nicht anders geschehen? Habe ich Fehler gemacht und muss jetzt dafür geradestehen? Ist mein Leiden, all die Verluste dessen, was mir wichtig war, vielleicht doch die Strafe für Vergehen – auch gegen Gott? Und wenn ja, kann Gott nicht Fehler verzeihen?

So menschlich diese Fragen auch scheinen mögen – Hiob bringen sie letztendlich nicht weiter, das Gegenteil ist der Fall. Und so klagt er: „Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich liebhatte, haben sich gegen mich gewandt. Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, ihr meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? Ach, dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach, dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen! Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust. (Hiob 19, 19-27)

Hiob ist verzweifelt – ohne Frage. Nicht nur, dass ihm nahezu alles Wichtige in seinem Leben genommen wurde, haben die vielen möglichen Antworten auf seine „Warum-ist-das-alles-geschehen-Frage“ ihn vollends an den Rand des Tragbaren gebracht. Ich kann nicht mehr! Diese Fragen müssen zum Ende kommen, denn sie führen mich in die Irre. All meine Getreuen verabscheuen mich! (…) Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden an meinem Fleisch?“ Man merkt Hiobs Rede an, wie aufgebracht und verzweifelt er gewesen sein muss.

Mir fällt der Besucher in meinem Haus wieder ein. Wie oft stand auch dort in so manchen Gesprächen die Frage nach dem „Warum“ im Raum. So manches Mal kamen wir in Gesprächen einem Gedanken auf die Spur, wie sich dies oder jenes vielleicht auf diese oder jene Weise entwickeln konnte – aber über allem Nachdenken stand doch eher der eine Satz: „Vielen Dank, dass Sie das mit mir ausgehalten haben“, im Raum.

Und das spüre ich eben auch auf meinem Weg als Pfarrer in der Schule. Ich mache oftmals die Erfahrung, dass Schülerinnen und Schüler – Menschen, mit denen ich im Bereich der Schule Begegnungen in der Seelsorge habe, (zunächst) eben nicht nach dem „Warum“ fragen, sondern jemanden brauchen, der zuhört, Wasser zum Trinken reicht und mitunter ein Taschentuch bereithält. Ein Lied aus dem Evangelischen Gesangbuch macht das Anliegen der Menschen in kurzen, aber eindrücklichen Versen deutlich „Ich will das Einer mit mir geht, der´s Leben kennt und mich versteht, der mich zu allen Zeiten kann geleiten. Ich möcht‘, dass einer mit mir geht. In dem Lied geht es eben nicht darum die Kreuzwege des Lebens vom Verstand her zu verstehen, sondern dass sie jemand mitgeht und mit aushält: „Ich wart‘, dass einer mit mir geht, der auch im Schweren zu mir steht, der in den dunklen Stunden mir verbunden. Ich wart‘, dass einer mit mir geht.

Das Lied aus dem EG erweitert die Blickrichtung und geht einen Schritt weiter: Es heißt, dass einer mit mir geht, der’s Leben kennt, der mich versteht, der mich zu allen Zeiten kann geleiten. Es heißt, dass einer mit mir geht. Dieser dritte Vers atmet die Hoffnung und das Vertrauen, das sich doch auch bei Hiob ausdrückt in einem kurzen Vers, der dem ganzen Text eine neue Richtung gibt: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“. Mag Hiob auch gegen Gottes unbegreiflichen Weg protestiert haben; Mag er ihn auch nicht hat begreifen können – so gibt er sich doch vertrauensvoll und mit Zuversicht in Gottes Hände und bekennt „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt! (…) Ich selbst werde ihn sehen und meine Augen ihn schauen (…).

Zum Ende will ich dem Vers aus dem Buch Hiob noch einmal eine Blickrichtung hinzustellen. Im vierten Vers des oben zitierten Liedes heißt es: Sie nennen ihn den Herren Christ, der durch den Tod gegangen ist; er will durch Leid und Freuden mich geleiten. Ich möcht‘, dass er auch mit mir geht.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag!

Andrew Klockenhoff, Schulpfarrer an der Bertha-von-Suttner-Schule, Nidderau