Das kleine Ostern


Liebe Gemeinde,

wenn ich lese, wie Jesus in Jerusalem eingezogen ist, frage ich mich, ob es ihm vielleicht ähnlich erging wie den Beatles. Als die nämlich auf dem Höhepunkt ihres Erfolges waren, konnten sie gar nicht mehr auftreten, weil die Fans mit ihrem Gekreische die Musik, die aus den Lautsprechern kam, völlig übertönten.

Der Evangelist Johannes erzählt, dass die Pharisäer, die Gegner Jesu, entsetzt die Köpfe schütteln und feststellen: „Alle Welt läuft ihm nach!“ Alle sind begeistert und rufen „Hosianna“ – konnten sie dann eigentlich noch hören, was Jesus zu sagen hatte? Es heißt, dass die Menschen deshalb so aus dem Häuschen sind, weil Jesus gerade einen Mann namens Lazarus von den Toten auferweckt hat. Mit diesem Wunder hat Jesus die Herzen der Menschen im Sturm erobert. Er ist auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit, ein richtiger Star. Und die Pharisäer wissen nicht mehr, wie sie dagegen noch anpredigen können. Sie können nur noch feststellen: „Alle Welt läuft ihm nach!“

Und als ob das noch bestätigt werden soll, tauchen plötzlich einige Fremde, einige Griechen auf, die offenbar auch von Jesus gehört haben. Sie sind, wie Jesus, zum Passafest nach Jerusalem gekommen.

20 Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest.

21 Die traten zu Philippus, der von Betsaida aus Galiläa war, und baten ihn und sprachen: Herr, wir wollen Jesus gerne sehen.

22 Philippus kommt und sagt es Andreas, und Philippus und Andreas sagen’s Jesus weiter.

Ich kann mir vorstellen, dass die Menschen große Erwartungen an Jesus haben. Auch diese Griechen: „Wir wollen Jesus sehen!“ Was sie wohl erwarten zu sehen? Erinnern wir uns, was anderen Menschen passiert ist, die Jesus sehen wollten: Da ist der Zöllner Zachäus, den Jesus aus seiner Außenseiterposition auf dem Maulbeerbaum heruntergeholt hat. Da ist der Blinde am Wegesrand, den Jesus heilte und der ganz leiblich begehrte, ihn zu sehen. Da ist die Ehebrecherin, die Jesus vor dem sicheren Tod bewahrt hat. Jesus sehen – das heißt für die Menschen damals: Er wird Wunder tun, dieser Mann aus Nazareth.

Das weckt Hoffnungen bei den Menschen: Da gibt es kein Leid und keinen Tod. Bei dem ist die Welt heil. „Wir wollen Jesus sehen!“

23 Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Zeit ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde.

24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.

25 Wer sein Leben lieb hat, der wird’s verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s erhalten zum ewigen Leben.

26 Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.

Ich kann mir vorstellen, dass seine Jünger damals denken: Hat er unsere Frage richtig verstanden?

Jesus unterbricht die heitere Stimmung des Festes mit radikalen Worten, wird quasi zum Spielverderber mitten in einer ausgelassenen Feier. Und lässt seine Jünger – und vermutlich auch die Griechen, die nach ihm gefragt haben, ratlos zurück.

Aber was, wenn Jesus die Frage nicht falsch verstanden hat? Wenn es genau die Antwort ist, die er auf „Wir wollen Jesus sehen“ geben will?

Er beantwortet nämlich mit seinen Worten die Frage danach, wer er ist. Er ist der Menschensohn. Und damit sagt er zugleich, wo sein Weg unweigerlich hinführen muss. Mitten auf dem Fest, mitten in all dem Trubel, offenbart Jesus seinen Jüngern, was ihm bevorsteht. Das Weizenkorn muss sterben. Sein Weg wird ihn ans Kreuz führen.

„Wir wollen Jesus sehen“, lautet die Frage. Und die Antwort heißt: Ihr könnt mich sehen, ja. Ihr werdet mich sehen, dort, am Kreuz, außerhalb der Tore Jerusalems, auf Golgatha. Wenn ihr dort hingeht, werdet ihr mich sehen.

Jesus sehen – das heißt plötzlich nicht mehr: Einen Blick auf den Superstar erhaschen, sich durch die Menge drängeln, womöglich eine Audienz bei ihm bekommen. Es heißt nicht mehr: Ihn zum Essen einladen, seine Wunder erfahren.

Jesus sehen, das heißt seit jenem Passafest in Jerusalem: Aufs Kreuz sehen.

Und es heißt: Ihn dort zu finden, am Kreuz, da, wo Leiden und Ohnmacht ist. Dort finden wir Jesus. Dort sehen wir ihn und dort, inmitten der Menschen, die ihn verspotten und inmitten all des Leides und der Trauer um ihn, dort erkennen wir, wer Jesus ist: Er ist der Menschensohn.

Er lässt sich jetzt nicht mehr da finden, wo Feststimmung und Jubel ist, wo man gut essen und trinken kann und das Leben genießt. Er offenbart seine Herrlichkeit nicht mit Allmacht. Er offenbart sie darin, dass er diesen schwersten aller Wege für uns geht. Und dort, in all seiner Ohnmacht, kommt er uns Menschen vielleicht am nächsten. Dort, wo er nicht der weit über uns stehende Gott ist, der Wunder wirkt und gefeiert wird, sondern da, wo er spürt, was menschliches Leid, was menschliche Ohnmacht heißt, da ist er der Menschensohn Jesus.

Für uns Christen führt kein Weg am Kreuz vorbei. Und doch: Gleichzeitig mit der Ankündigung seines eigenen Todes gibt Jesus uns eine Hoffnung: Wenn das Weizenkorn nicht stirbt, so bringt es keine Frucht. Ja, Jesus muss sterben und wir müssen diesen Tod mit ihm aushalten. Wir halten am Kreuz inne, wir sehen auf Jesus. Aber wir wissen auch: Dieses Kreuz ist nicht das letzte. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Jesu Tod wird Frucht bringen. Er wird die Welt verändern. Er wird die Verhältnisse, die bisher herrschten, umdrehen. Das Weizenkorn wird Frucht bringen. Deshalb heißt dieser Sonntag mitten in der Passionszeit: Lätare. Freut euch! Er wird auch „das kleine Ostern“ genannt.

Weil wir schon die Hoffnung kennen: Das Weizenkorn hat Frucht gebracht. Auf das Kreuz sehen heißt in der Passionszeit: auf Jesu Leiden sehen. Es heißt aber auch: Hoffnung schöpfen, an das Leben glauben, Jesus als den erkennen, der er ist: Als den Sohn Gottes, der für uns gelitten hat und zu dem sich Gott bekannt hat: 3 Tage später, an Ostern. Das Weizenkorn hat Frucht gebracht. Amen.

Der Gott des Lichtes und des Lebens strahle leuchtend auf über uns.
Er lasse uns spüren das Feuer der Liebe und wärme unsere Herzen mit seiner Lebensglut,
damit wir erkennen seine Güte und seine Barmherzigkeit, die überreich sind für jeden von uns.
Er lasse uns aufstehen, wenn Leid unser Leben lähmt und lasse uns seine Stimme hören, wenn er ruft: Ich will, dass du lebst.
Das gewähre uns Gott, der für uns Licht ist am Tag und in der Nacht;
der Gott, der das Leben liebt über alle Maßen.

Bleiben Sie behütet!

Es grüßt Sie herzlich

Ihre Pfarrerin Johanna Ruppert