Gottes Ja im Nein
Liebe Gemeinde,
heute soll ein Lied im Mittelpunkt meiner Gedanken stehen, das Wochenlied. Es ist meines Erachtens nach nicht ganz so bekannt wie andere Passionslieder, aber das ist ja auch der Sinn der Wochenlieder: dass wir in unseren Gottesdiensten auch mal Lieder singen, die wir nicht schon in- und auswendig kennen. Ich denke aber, man kann es ganz gut singen, auch zuhause allein, denn die zweite, bekanntere Melodie des Liedes ist die von „O Welt, ich muss dich lassen“.
Das Kreuz ist aufgerichtet
Das Kreuz ist aufgerichtet, der große Streit geschlichtet. Dass er das Heil der Welt in diesem Zeichen gründe, gibt sich für ihre Sünde der Schöpfer selber zum Entgelt.
Er wollte, dass die Erde zum Stern des Kreuzes werde, und der am Kreuz verblich, der sollte wiederbringen, die sonst verlorengingen, dafür gab er zum Opfer sich.
Er schonte den Verräter, ließ sich als Missetäter verdammen vor Gericht, schwieg still zu allem Hohne, nahm an die Dornenkrone, die Schläge in sein Angesicht.
So hat es Gott gefallen, so gibt er sich uns allen. Das Ja erscheint im Nein, der Sieg im Unterliegen, der Segen im Versiegen, die Liebe will verborgen sein.
Wir sind nicht mehr die Knechte der alten Todesmächte und ihrer Tyrannei. Der Sohn, der es erduldet, hat uns am Kreuz entschuldet. Auch wir sind Söhne und sind frei.
Reminiszere – das heißt „Gedenke“. „Gedenke an deine Barmherzigkeit“ – betet der Psalmbeter da zu Gott. Erinnere dich daran, was du uns versprochen und was du uns zugesagt hast. Es ist ein Ruf aus einer verzweifelten Situation, aus einer Situation, in der jemand sich von Gott vergessen oder gar bestraft fühlt: „Erinnere dich doch, Gott. Erinnere dich an mich, an uns und an deine Versprechen“.
Gott hat es nicht immer leicht mit uns – da könnte man schon mal die Geduld verlieren. Mangelndes Vertrauen in ihn, so viel Hass in der Welt, Menschen, die anderen ihren Lebensraum nehmen, zerstörte Wälder, vergiftete Flüsse – und immer wieder wird die Menschenwürde, die uns doch von ihm selbst verliehen worden ist, als er uns ihm ebenbildlich geschaffen hat, verletzt. Nein, wir machen es Gott nicht leicht mit uns. Und gerade jetzt brauchen wir ihn doch so dringend in unserer Welt.
„Gedenke an deine Barmherzigkeit“ – wenn wir Gott anrufen und erinnern, dann können wir uns aber auf etwas berufen, das viel größer ist als wir selbst und das alles, was wir Menschen tun könnten, in den Schatten stellt: daran, dass er seinen eigenen Sohn gegeben hat, daran, dass er für uns am Kreuz gestorben ist, dass er sich selbst gegeben hat für uns Menschen – damit Gott nie wieder die Geduld mit uns verlieren muss.
Dieses Kreuz, so paradox das ist, ist unser großes Hoffnungssymbol geworden. Ein Kreuz, einst als Folterinstrument und grausames Todesurteil verbreitet, ist unser Anker geworden, das, woran wir uns festhalten und woran wir Gott erinnern können. Für mich ist es das sogar ganz wörtlich geworden: ein Anker zum Festhalten.
Bestimmt kennen Sie die Handschmeichlerkreuze aus Holz. Ein solches habe ich zuhause oder meistens in meiner Handtasche oder Jackentasche – zum Festhalten und Drücken in schweren Situationen. Wieviel Angst, wieviel Zittern, wieviel Sorge hat dieses Kreuz schon aus meiner Hand aufgenommen und mit mir getragen! Es stecken Geschichten darin, es kennt Krankenhausflure, es kennt Sterbebetten.
Ein Kreuz als Anker, als Hoffnungssymbol. Es steht dafür, dass Gott die Verhältnisse umgedreht hat, so wie Maria es schon in ihrem großen Magnificat, ihrem Loblied, vor Jesu Geburt besungen hat: Er stößt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Wie oft hat er das schon bewiesen, als er den kleinen Hirtenjungen David zum König machte, als er den Betrüger Jakob erwählte, als Saulus durch ihn zu Paulus wurde.
Und wir könnten ergänzen: Er macht ein Mordwerkzeug zum Symbol der Hoffnung und der Freiheit. Das Kreuz scheint eine Torheit für die, die verloren werden, so schreibt Paulus, aber für uns ist es eine Gotteskraft.
Diese Umkehrung der Verhältnisse gibt für mich in beeindruckenden Worten besonders die vierte Strophe des Wochenliedes wieder: Gottes Ja liegt im Nein, sein Sieg liegt im Unterliegen, sein Segen im Versiegen – und die Liebe wächst im Verborgenen.
Ja, es ist schwer, das so zu sehen, gerade, wenn wir in unserem Alltag an einem Nein verzweifeln, wenn wir eine Niederlage einstecken müssen, wenn uns der Mut versiegt und wir die Liebe nicht spüren können.
Vielleicht ist aber manches nicht so, wie es im ersten Augenblick der Verzweiflung scheint, vielleicht gibt es eine Wirklichkeit hinter den Dingen, die langsam wächst und durchscheinen kann.
Leonard Cohen hat einmal gesagt: There’s a crack in eyerything – that’s how the light gets in. Durch alles geht ein Riss – so kommt das Licht herein.
Wir können nicht immer hinter die Dinge sehen und manchmal gibt es auch einfach nichts Gutes hinter dem Schlechten – egal, wie lange und intensiv wir suchen. Und Gott möchte das auch gar nicht schönreden, denn in Jesus hat er uns gezeigt, dass er das Leid, das wir durchleben müssen, ernstnimmt.
Er nimmt das Kreuz nicht weg, sondern es bleibt. Es bleibt mitten unter uns, aber es trägt in sich die Hoffnung.
Und es nimmt alles auf, was uns zu erdrücken droht und verzweifeln lässt: die Sorgen, die Ängste, das Unbeantwortbare, das uns quält, unsere Fehler und unsere Schuld.
Im Kreuz liegt die Zusage der Liebe Gottes, die dennoch unter uns wächst und lebt. Und damit wird es zur größten Kraft, die wir haben, der Kraft Gottes, die in uns lebt, die von außen betrachtet eine Torheit zu sein scheint, uns aber von innen mit Licht und Kraft und Liebe erfüllt. Amen.
Der unbegreifliche Gott erfülle Dein Leben mit seiner Kraft,
dass du entbehren kannst, ohne hart zu werden,
dass du leiden kannst, ohne zu zerbrechen,
dass du Niederlagen hinnehmen kannst, ohne dich aufzugeben,
dass du schuldig werden kannst, ohne dich zu verachten,
dass du mit Unbeantwortbarem leben kannst, ohne die Hoffnung preiszugeben. Amen
Bleiben Sie behütet!
Es grüßt Sie herzlich
Ihre Pfarrerin Johanna Ruppert